230020 SE Ausgewählte Paradigmen: Michel Foucault und Norbert Elias (2022W)

Mit der Entstehung der modernen, funktionssystemisch differenzierten Gesellschaft ist ein geschichtlich neuartiger Reorganisationsprozess der Subjektbildung einhergegangen. Er hat sich in kognitiver, sozialer und affektiver Dimension vollzogen und wurde im Verlauf der Neuzeit einer fortschreitend reflexiven Gestaltung unterzogen. Zum Ziel staatlicher Politik wurde es, den Prozess der gesellschaftlichen - schulischen, militärischen, ökonomischen u.a. - Sozialisation aktiv zu organisieren und das Niveau der kollektiven Handlungs- und Organisationskompetenzen fortschreitend umfassender zu steigern. Schon Karl Marx, Max Weber und Sigmund Freud haben gesehen, dass dieser Prozess mit dem der Distanzierung, Disziplinierung und Sublimierung auf das Engste verbunden war. Die Kombination beider Faktoren - sie stellt den "Kern" des historischen Zivilisationsprozesses dar. Ihn in seinen Ambivalenzen genauer in den Blick zu nehmen, war das Anliegen der Gesellschaftstheorien von Norbert Elias und Michel Foucault.

In der Auseinandersetzung mit den Arbeiten dieser Autoren soll in diesem Seminar zunächst der Frage nachgegangen werden, wie dort das Bedingungsverhältnis von gesellschaftlicher und individueller Strukturbildung verstanden wird, in welchen sozialen Systemen und mittels welcher Sozialisationstechniken die Generierung von kultureller Organisations- und Disziplinierungskompetenz vorangetrieben wird und worin die Ambivalenzen dieses Prozesses bestehen. Denn so einig sich Elias und Foucault darin sind, die historische Genese der modernen Subjektorganisation als einen fortschreitend subtiler organisierten Prozess der gesellschaftlichen "Unterwerfung" (Foucault) deuten zu können, der mit einer massiven "Anästhesierung" (Elias) des eigenen Körperverhältnisses verbunden war, so verschieden sind ihre normativen und politischen Perspektivierungen im Anschluss an diesen Befund: Hat Foucault die "Genealogie der modernen Seele" als Herrschaftskritik verstanden, sieht Elias in der Emergenz einer Kultur des "Selbstzwanges" schon eher das subjektstrukturell notwendige Pendant zu einer Gesellschaft, die aufgrund ihrer funktionssystemischen Ausdifferenzierungen und soziostrukturellen Individualisierungen ohne ein hohes Niveau an Selbstkontrollkompetenz lebenspraktisch überhaupt nicht zu bewältigen ist. Im Anschluss an die Auseinandersetzung mit den Theorien von Norbert Elias und Michel Foucault sollen die Ambivalenzen des Zivilisationsprozesses anhand verschiedener Themen und empirischer Materialien untersucht werden.

Im Überblick dargestellt sollen folgende Fragestellungen im Rahmen dieser soziologischen Seminarveranstaltung bearbeitet und intellektuell durchdrungen werden:

1) Von der religiösen Subjektlogik zur säkularen Prozesslogik: Die erkenntnistheoretischen Voraussetzungen soziologischer Gesellschaftstheorie
2) Der Bildungsprozess von Gesellschaft und Subjekt und seine geschichtlich gesteigerten Ambivalenzen
3) Der Wandel der gesellschaftlichen Organisation in der Neuzeit und der Prozess der Differenzierung, Disziplinierung und Zivilisierung. Die Bedeutung des staatlichen Gewaltmonopols
4) Die gesellschaftliche und individuellen Ambivalenzen des modernen Zivilisationsprozesses: Entzivilisierung (z.B. Krieg/Kriegsverbrechen, anomische Gewalt und Gewalt in Familien und Partnerschaften) und Selbstkontrollverlust (z.B. stofflose/stoffliche Suchterkrankungen), aber auch reflexiv kultivierte Formen der Entgrenzung und Regression in privaten oder gesellschaftlichen Sonderkontexten (z.B. Extrem-/Sport, Sexualität, Kunst, Konsum von medialen Gewaltinszenierungen).
5) Naturzerstörung und drohender Zivilisationsbruch. Soziologische Perspektiven auf die globale Klimaerwärmung
6) "Der Prozess der Zivilisierung" und seine Ambivalenzen. Zur Situation der konkreten Subjekte in der Moderne, auch der studentischen
7) Ambivalenzen des Zivilisationsprozesses: Herrschaft, strukturelle Gewalt und das Postulat der Gewaltfreiheit. Politische Perspektive