090063 VO+UE Theoretische Grundlagen der Kulturgeschichte: (2012W)

In den letzten zwei Jahrzehnten hat sich der Interessenschwerpunkt der historischen Forschung von der Sozial- auf die Kulturgeschichte, von Strukturen und sozialen Gruppen auf individuelle ebenso wie kollektive Erfahrungen und Deutungsmuster verlagert. Durch den cultural turn ("kulturalistische Wende") rückten die Lebenswelten konkreter Individuen und Gruppen, deren identitätskonstituierende Erinnerungen, Wahrnehmungen und Wertüberzeugungen in den Fokus der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Eines der wichtigsten Forschungsfelder, das sich durch den cultural turn auftat, ist jenes der Untersuchung des kulturellen Gedächtnisses in seiner überragenden sinnstiftenden und orientierungsgebenden Funktion für Gegenwart und Zukunft. Das kulturelle Gedächtnis umfasst gruppenbezogene Erinnerungen, die über Generationen hinweg überliefert werden und sich durch einen langfristigen Zeithorizont auszeichnen. Im Zentrum der LV stehen die Erinnerungskulturen größerer politischer, sozialer und nationaler Kollektive, die Art und Weise, wie sich Gesellschaften an "ihre" Vergangenheit(en) erinnern, die verschiedenen Formen ästhetischer, politischer oder kognitiver Aneignung historischer Ereignisse und Persönlichkeiten, die dabei in Erscheinung treten. In diesem Zusammenhang wird anhand der Konzepte von Geschichtspolitik und "historischer Meistererzählung" auch die politische Instrumentalisierung der Geschichte für tagespolitische Zwecke und nationale Identitätskonstruktionsprozesse erörtert. Exemplifiziert wird das erinnerungskulturelle Theoriemodell an Beispielen aus der griechischen, südosteuropäischen und südeuropäischen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts.