160017 VO "Wonderous Stories" oder über die Konstruktion von Geschichte in der Ethnomusikologie (2025S)

Das Thema dieser Vorlesung ist die Frage, wie zunächst die vergleichende Musikwissenschaft und später die Ethnomusikologie im Laufe des 20. Jahrhunderts, die Geschichte der Musik von Gesellschaften ohne Schrift und ohne musikalische Notation konzipierten und konstruierten. Dabei war die Beziehung zwischen Ethnomusikologie und Geschichtsschreibung nicht immer konfliktfrei. Als eine Disziplin, die aus der Ethnologie hervorgegangen ist, konzentrierte sich die Ethnomusikologie vor allem auf die Gegenwart (Neuman 1991: 270). Die Musiken schriftloser Gesellschaften wurden lange Zeit als geschichtslose musikalische Kulturen betrachtet (Blum 1991: 2), deren Bedeutung lediglich darin lag, als Quellen für die Rekonstruktion einer homogenen und universalen Musikgeschichte zu fungieren.
Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gewann die Idee der historischen Dimension sogenannter „primitiver“ Musiken an Bedeutung innerhalb der Ethnomusikologie. Bereits 1987 wies Timothy Rice darauf hin, dass eine historische Perspektive unverzichtbar sei, um die Transformationen der Musik als Klang, Verhalten und Konzepte zu erklären (1987: 479). Später hoben weitere Autoren hervor, welchen Wert ethnographische Daten für die Geschichtsschreibung besitzen, da sie wichtige Informationen über die Vergangenheit liefern können (Blum 1991: 8, Qureshi 1991: 104). Dies führte zur Etablierung dessen, was McCollum und Hebert als „the historical turn in ethnomusicology“ bezeichnet haben (2014: 3). Heute, im 21. Jahrhundert, erscheint es offensichtlich, dass „in vielen Gesellschaften Geschichte buchstäblich gesungen wird“ (Bithell 2006: 7) und dass es Aufgabe der Ethnomusikologin ist, diese Geschichte ebenso zu hören und zu dokumentieren. Allerdings konzentrierte sich diese „historische Wende“ vor allem auf das Untersuchungsobjekt – auf die Geschichtlichkeit musikalischer Kulturen – und weniger bis kaum auf die Art und Weise, wie wir Forschende Geschichte schreiben und imaginieren.
In dieser Vorlesung möchte ich daher die epistemologischen und rhetorischen Strategien der Geschichtsschreibung in der Ethnomusikologie als Formen der Mythenbildung untersuchen – also jene „Wonderous Stories“, wie sie auch im gleichnamigen Song der britischen Band Yes besungen werden. Nach einer Auseinandersetzung mit narrativistischen Ansätzen (Danto 1980 [1965], White 2015 [1973], Jenkins 2008[1991]), die uns eine theoretische Grundlage liefern werden, möchte ich untersuchen, wie die Musikgeschichte schriftloser Kulturen in der Ethnomusikologie des 20. Jahrhunderts konstruiert und dargestellt wurde.