160018 SE Die feinen Unterschiede. Postcolonial Studies und die Dekolonialität in der Ethnomusikologie (2025S)

In den letzten Jahren hat die Forderung nach einer Ethnomusikologie, die sich von den kolonialistischen Konnotationen ihrer Entstehung löst, deutlich zugenommen. In diesem Kontext ist die Suche nach neuen Formen der kulturellen Repräsentation zu einer Konstante in ethnomusikologischen Publikationen und Konferenzen geworden. Doch der Wunsch nach einer neuen, antikolonialen Ausrichtung der Ethnomusikologie hat leider zu einem inflationären und undifferenzierten Gebrauch der Begriffe „postkolonial“ und „dekolonial“ geführt. Dies greift Stuart Halls frühe Besorgnis auf, als er sich fragte: „When was the post-colonial?“ (Hall 1996), und wirft gleichzeitig die Frage auf, was eine dekoloniale Ethnomusikologie tatsächlich ausmacht.
In diesem Seminar wollen wir die Postcolonial Studies und das Konzept der Kolonialität der Macht unter die Lupe nehmen. Unter Rückgriff auf klassische Autor*innen wie einerseits Edward Said (1979), Gayatri Spivak (1988), Homi Bhabha (1994) und Stuart Hall (1996), die als Vertreter*innen des postkolonialen Denkens gelten, sowie Aníbal Quijano (2000 [1992]), Walter Mignolo (1992) und Rita Segato (2022 [2015]), zentrale Stimmen der Theorie der Kolonialität der Macht andererseits, möchten wir die feinen Unterschiede zwischen diesen beiden Denkrichtungen und ihre Auswirkungen auf unsere Disziplin reflektieren. Dazu analysieren wir nicht nur die Originaltexte, sondern auch die Anwendung dieser theoretischen Prämissen in der Ethnomusikologie, von den frühen Arbeiten wie denen von Kofi Agawu (1993) oder Philip Bohlman und Donald Radano (2000) zur Repräsentation afrikanischer bzw. afroamerikanischer Musik in ethnomusikologischen Diskursen, bis hin zu neueren kritischen Stimmen wie Lizette Alegre (2015), Elizabeth Mackinlay und Katelyn Barney (2004) oder Stephen Amico (2024).
Das Ziel des Seminars ist es, die politische Dimension dieser Theorien neu zu überdenken, um sie von jenen akademischen Domestizierungsprozessen zu befreien, die die Konzepte aufweichen und so ihr Widerstandspotenzial neutralisieren. Darüber hinaus werden wir die Grenzen und Möglichkeiten einer dekolonialen Ethnomusikologie diskutieren und untersuchen, inwieweit sie zu einer kritischen Neubewertung ethnomusikologischer Methoden und Erkenntnispraktiken beitragen kann.