Universität Wien

180037 SE Gefahr, Sorge, Verantwortung, List (2012S)

4 Grundbegriffe einer Ethik der Technik (Heidegger, Stiegler, Jonas, Benjamin)

5.00 ECTS (2.00 SWS), SPL 18 - Philosophie
Prüfungsimmanente Lehrveranstaltung

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Details

max. 45 Teilnehmer*innen
Sprache: Deutsch

Lehrende

Termine (iCal) - nächster Termin ist mit N markiert

Freitag 16.03. 16:00 - 20:00 Hörsaal 2G, NIG Universitätsstraße 7/Stg. II/2.Stock, 1010 Wien
Freitag 23.03. 16:00 - 20:00 Hörsaal 2G, NIG Universitätsstraße 7/Stg. II/2.Stock, 1010 Wien
Freitag 30.03. 16:00 - 20:00 Hörsaal 2G, NIG Universitätsstraße 7/Stg. II/2.Stock, 1010 Wien
Freitag 27.04. 16:00 - 20:00 Hörsaal 2G, NIG Universitätsstraße 7/Stg. II/2.Stock, 1010 Wien
Freitag 04.05. 16:00 - 20:00 Hörsaal 2G, NIG Universitätsstraße 7/Stg. II/2.Stock, 1010 Wien
Freitag 11.05. 16:00 - 20:00 Hörsaal 2G, NIG Universitätsstraße 7/Stg. II/2.Stock, 1010 Wien
Freitag 18.05. 16:00 - 20:00 Hörsaal 2G, NIG Universitätsstraße 7/Stg. II/2.Stock, 1010 Wien
Freitag 25.05. 16:00 - 20:00 Hörsaal 2G, NIG Universitätsstraße 7/Stg. II/2.Stock, 1010 Wien

Information

Ziele, Inhalte und Methode der Lehrveranstaltung

Heidegger entwirft die moderne Technik als >Seinsgeschick< und als Weise der Wahrheit als Unverborgenheit, die er mit der Kunst kontrastiert. Im Übergang von seiner verdichteten Beschreibung der modernen Technik als einem historisch (>seinsgeschichtlich<) epochalen >Gestell< zu seiner >Entbergung< in einem gewissen gelassenen Denken eines Wesens der Technik, das selbst nichts Technisches sei, kommt Heidegger auf den Begriff der >Gefahr<, den er aber aus Hölderlins Hymne >Patmos< bezieht und in diesem dichterischen Bezug als ethischen Begriff sehr unterbestimmt lässt.
Nun ist aber dieser unterbestimmte Begriff der >Gefahr< genau jener Grenzbegriff zwischen Ontologie und Ethik, der als spezifische Einlassstelle einer Ethik des Technischen dienen kann. Anhand der >Gefahr< will ich versuchen, von Heidegger auszugehen, aber auch über ihn hinauszugehen, um einen spezifisch ethischen Zugang zum Phänomen der Technik zu finden, deren Übermacht in der modernen Lebenswelt nicht einem ethisch letztlich unbelangbaren Seinsgeschick zugeschrieben wird. Die >Gefahr< kann aber auch umgekehrt als jener ethische Begriff gelten, der genau das Technische betrifft, der also die spezifisch technische Problematik der Ethik bezeichnet. Insofern ist >Gefahr< auch der Begriff, der eine einfache Ableitung einer Ethik der Technik aus normativen Setzungen der philosophischen Anthropologie verbietet. Wir wissen nicht schon deshalb, weil wir wissen, was der Mensch sei, auch, wie er sich ethisch zur Technik verhalten soll; und dies eben deshalb, weil die technische Erweiterung seines Wesens die Bestimmung des Menschen gerade erschwert. Wenn wir also das Technische in das Wesen des Menschen aufnehmen, können wir keine Ethik der Technik auf einer Definition des Menschen aufbauen, der ja gerade das Technische entgegensteht.
In diesem Sinne bedeutet >Gefahr< die Gefahr, in der das Wesen des Menschen schwebt, insofern es sich der Technik bedient. Diese Gefahr lässt sich nicht aus der Welt schaffen, sie ist präzise die Problemzone eines spezifischen ethischen Verhältnisses zur Technik, die erst zu konstituieren ist.
Ein Moment der Gefahr ist hier die Zweideutigkeit des Technischen, die Ungewissheit, der Umstand, dass es in die eine oder andere Richtung ausschlagen kann. Diese Gefahr des Technischen muss anders als in der alten Logik der Neutralität und >Unschuld< der Mittel gedacht werden. Das Technische als die Geschicklichkeit, Wege zu finden, wirft einen spezifischen Schatten der Ausweg-losigkeit, den Heidegger auf dem Höhepunkt des zweiten Weltkriegs in seiner Lektüre des Chorlieds von >Antigone< in der Vorlesung >Der Ister< (1942) thematisierte. Doch auf dem Höhepunkt dieser Ausweglosigkeit schlägt nicht das Schicksal zu, hier beginnt erst eine spezifische Ethik der Technik, die vor allem eine Ethik der planbaren (oder unverfügbaren) Zeit sein muss.
Den Weg von der Gefahr zur Ethik der Zeit als Ethik der Technik bahnt Bernard Stiegler im Ausgang von Heidegger. Bei Stiegler verbindet der durch >Sein und Zeit< eingeführte Begriff der >Sorge< die Frage der Technik mit der Frage der Zeit. Stiegler bedient sich des Mythos von Epimetheus und Prometheus – Epimetheus hat vergessen, die Menschen mit natürlichen >Mitteln< auszustatten, Prometheus hat Abhilfe geschaffen durch die Einführung der unnatürlichen Mittel, das Feuer und die Technik. Anhand dieses Mythos lässt sich sowohl die von Herder auf Gehlen überkommene These vom >Mängelwesen< Mensch als auch die >Vorausschau< des Prometheus in ihrer gegenstrebigen Fügung thematisieren.
Prometheus, der sorglose Vorwärtsstürmer, dem Klassik und Romantik als Kulturheros huldigten, steht heute unter Verdacht. Die Waage neigt sich dem Zögern und der Sorge des Epimetheus zu. Stiegker skizziert eine >prometheische Krise<. Ausgehend von André Leroi-Gourhans epochaler anthropologischer Analyse >Hand und Wort< zeigt Stiegler, dass mit dem technischen Verhalten schon des hominiden Vormenschen die Eröffnung bestimmter Antizipationshorizonte einhergeht. Das technische Verhalten eröffnet sich Zukunft, es bezieht sich wesentlich auf das, was es tun wird. Es ist in dieser Hinsicht auch strukturell gedächtnislos und sorgt sich nicht um die Kumulationseffekte und >Abfälle<, die seine Operationsketten zurücklassen. Nun hat aber laut Stiegler die moderne Technik ein Ausmaß des technischen >Vorwärts-Stürmens< erreicht, dass die Zeit der Technik die Zeit aus den Fugen geraten ließ. Die Frage ist also, ob der Zukunftsbezogenheit der Technik ein >sorgendes< Gedächtnis eingebaut werden kann. Umgekehrt wird aber die Technik gerade durch die Sorge um die Zukunft zu einem gewaltigen Planspiel mit Modellwelten und hypothetischen Wenn-Dann-Folgen, die dazu führen können, dass wir die Zukunft schon heute konsumieren und verbauen, und das in der Sorge, sie durch unser heutiges technisches Verhalten unmöglich zu machen. So antwortet ein Übermaß an Besorgtheit auf den strukturellen promethischen Mangel an Sorge.
Dieser Frage widmet sich großartige Hans Jonas in seinem heute wenig rezipierten Werk >Das Prinzip Verantwortung< (1979). Mit Bezügen auf Heidegger, Arendt, Anders und Bloch entwirft Jonas hier eine anti-utopische Theorie der technischen Zeit, die erst lernen muss, mit den enormen Zeiträumen zu >rechnen<, die sie durch ihre Operationsketten eröffnet. Verantwortung wird im Zeitalter der Hochtechnologie zum neuen Kardinalbegriff der Ethik, also zu jenem ethischen Horizont, dem sich alle anderen ethischen Konzepte unterordnen müssen. Dies bedeutet aber auch eine Revolution innerhalb des ethischen Denkens selbst. Denn die Verantwortung tritt als radikal temporalisierter Begriff erst da auf, wo die Menschheit die Macht hat, sowohl ihre Existenzbedingungen als auch ihr >Wesen< bis zu Auslöschung und Unkenntlichkeit zu verändern. So ist die Verantwortung jener Schatten der Macht, der darum ringt, der Macht zuvorzukommen, und dabei Unmögliches will. Denn die Verantwortung antwortet schon heute einer Zukunft, an deren Verunmöglichung wir nicht schuld sein dürfen, eine Zukunft, die selbst gar nicht in der Lage ist, zu fragen. Die Verantwortung ist also jenes Manöver, die Linearität der Zeit in eine fiktive Reziprozität zu verwandeln.
Hier wäre auch möglich, den Bogen von Jonas zu jenen aktuellen Theorien der >Technikfolgenabschätzung< zu schlagen, die Jonas viel verdanken.
Schließlich aber soll in einem letzten, vierten Kapitel der Schwere der Verantwortung ein leichterer Begriff noch an die Seite gestellt werden, der von jeher die Technik begleitet hat: die List. Die List ließe sich als >Mechané< bereits in der Antike aufsuchen und hat in Hegels >List der Vernunft< (grundgelegt als >List der Natur< bei Kant) eine spezifisch technische Logik der Geschichte hervorgebracht. Allerdings will ich mich eher auf die zwar zerstreuten, aber doch bedeutsamen Hinweise zu List und Technik bei Walter Benjamin [in >Kritik der Gewalt< (1921), im Kunstwerk-Aufsatz (1935), und als großartige Allegorie in dem Abschnitt >Planetarium< in >Einbahnstraße< (1928)] beziehen. Denn anders als der Mainstream der Frankfurter Schule war Benjamin kein Technik-Feind und hat das Technische nie auf >instrumentelle Vernunft< und >Verdinglichung< reduziert. Vielmehr sah er – und hier schließt sich der Kreis – das Technische nicht nur als >die Gefahr< für uns; er sah das Technische selbst >in Gefahr<, von der falschen politischen Macht vereinnahmt zu werden; und erst aus diesen politischen Gründen zur Katastrophe zu werden. So stehen also hinter den Problemen der Ethik des Technischen auch die Probleme der politischen Macht. Die Technik ist als das zu zeigen, das immer in verschiedene Richtungen gehen kann, wobei nicht das Sein, sondern die Gesellschaft zu entscheiden hat, wohin sie geht. Schon deshalb ist nach Benjamin eine einfache >Ablehnung< des Technischen unmöglich, weil es eben die >List< ist, die jener Gewalt entgegensteht, die Benjamin gerade auch im Recht am Werk sieht.

Art der Leistungskontrolle und erlaubte Hilfsmittel

Die Beurteilung setzt sich aus Anwesenheit und aktiver Beteiligung an den Diskussionen, Kurzreferaten und schriftlicher Arbeit zusammen. Da aktive Beiträge während des Seminars mehr zählen als die schriftliche Arbeit, muss die Arbeit bei Nicht-Referenten (bzw. Nicht immer Anwesenden und nicht aktiv Mitarbeitenden) ausführlicher (ab 10 Seiten) und wissenschaftlich anspruchsvoller sein.

Mindestanforderungen und Beurteilungsmaßstab

Ziel des Seminars ist eine breite und grundlegende Diskussion einer möglichen Ethik der Technik, die sich keiner bestimmten philosophischen Richtung anschließt, sondern mehrere Schriften und Begriffe durchquert, um eine noch nicht gefundene ethische Grundlegung des Gebrauchs der Technik zu umreißen. Grundsätzlich gilt aber die Prämisse, dass das Technische ebenso als Funktion des Sozialen aufgefasst wird wie das Soziale als immer schon technische Verfasstheit der Menschheit. Jeder Versuch, eine ontologische Super-Setzung anzusetzen, um jene komplexe gegenseitige Implikation von Gesellschaft und Technik durch ein größeres Drittes aufzulösen, wie sie etwa durch Heideggers Rede vom verfolgt wurde, wird zurückgewiesen; nicht zuletzt, weil eben diese Strategie alle ethischen Fragen einerseits völlig entschärft, andererseits schon im Vorfeld unstellbar macht, die das Verhältnis von Technik und Gesellschaft betreffen.

Prüfungsstoff

Die Methode besteht aus Lektüre und Besprechung von ausgewählten Passagen der Literatur in Form von offener Diskussion und Referaten, ergänzt durch Protokolle.

Literatur

Benjamin, Walter: >Zur Kritik der Gewalt< (1920/21), Gesammelte Schriften II.1, hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt/Main 1999, S. 179-204.
>Einbahnstraße< (1928), Gesammelte Schriften IV.1, Frankfurt/Main 1991.
>Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit< (1935), Gesammelte Schriften I.2, Frankfurt/Main 1980, S. 471-508.
Heidegger, Martin: .>Die Frage nach der Technik< (1953), In: Ders.: Vorträge und Aufsätze, Stuttgart 1997, S. 9 - 41.
Hölderlins Hymne >Der Ister< (1942), GA, Bd. 53, II.Abt.: Vorlesungen 1923 - 1944, Frankfurt/Main 1984
Gehlen, Arnold: Die Seele im technischen Zeitalter und andere sozialpsychologische, soziologische und kulturanalytische Schriften (1957/72), Frankfurt/Main: Vittorio Klostermann 2004.
Jonas, Hans: Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation. Frankfurt/Main 1979.
Langenegger, Detlev: Gesamtdeutungen moderner Technik. Moscovici, Ropohl, Ellul, Heidegger, Königshausen und Neumann 1990.
Kittsteiner, Heins Dieter: Listen der Vernunft. Motive geschichtsphilosophischen Denkens, Frankfurt/Main 1998.
Leroi-Gourhan, André: Hand und Wort. Die Evolution von Technik, Sprache und Kunst, Suhrkamp 1988.
Rohbeck, Johannes: Technologische Urteilskraft. Zu einer Ethik technischen Handelns, Suhrkamp 1993.
Ruoff, Michael: Schnee von morgen. Das Neue in der Technik, Königshausen und Neumann 2002.
Stiegler, Bernard: Technik und Zeit I: Der Fehler des Epimetheus, Berlin: Diaphanes 2009.

Zuordnung im Vorlesungsverzeichnis

BA M 7.2, 57.3.7

Letzte Änderung: Mo 07.09.2020 15:36