Universität Wien

190053 PS BM 4 Bildungswissenschaftliches Arbeiten zu einem exemplarischen Thema (AHP+IP) (2019S)

Wer ist (a)normal? Schule, Heilpädagogik, Medizin und Psychologie im 19. und 20. Jahrhundert

5.00 ECTS (2.00 SWS), SPL 19 - Bildungswissenschaft
Prüfungsimmanente Lehrveranstaltung

BM 4 PS (AHP+IP) + BM 1 PS (2011)
Bitte beachten Sie die Leistungsvoraussetzungen bei der Anmeldung zu diesem Proseminar!
BM4 / BM1 ist gemeinsam mit einer Bibliotheks-Führung und einer Schulung zu besuchen (nähere Informationen folgen)
Beachten Sie ferner, dass es sich um eine prüfungsimmanente LV handelt, d.h. es besteht Anwesenheitspflicht.
Die Anwesenheit in der ersten PS-Einheit ist Voraussetzung für die Teilnahme an der LV.
Die SPL empfiehlt als Grundlage für den Besuch von weiteren Proseminaren den erfolgreichen Abschluss des Bm4/BM1-Proseminars.
Die in BM4/BM1 erworbenen Kompetenzen werden in den nachfolgenden Proseminaren vorausgesetzt.

An/Abmeldung

Hinweis: Ihr Anmeldezeitpunkt innerhalb der Frist hat keine Auswirkungen auf die Platzvergabe (kein "first come, first served").

Details

max. 35 Teilnehmer*innen
Sprache: Deutsch

Lehrende

Termine (iCal) - nächster Termin ist mit N markiert

  • Freitag 08.03. 13:15 - 16:30 Seminarraum 4 Sensengasse 3a 1.OG
  • Samstag 09.03. 08:30 - 12:00 Seminarraum 4 Sensengasse 3a 1.OG
  • Freitag 05.04. 13:15 - 16:30 Seminarraum 4 Sensengasse 3a 1.OG
  • Samstag 06.04. 08:30 - 12:00 Seminarraum 1 Sensengasse 3a 1.OG
  • Freitag 03.05. 13:15 - 16:30 Seminarraum 1 Sensengasse 3a 1.OG
  • Samstag 04.05. 08:30 - 12:00 Seminarraum 1 Sensengasse 3a 1.OG
  • Freitag 31.05. 13:15 - 16:30 Seminarraum 1 Sensengasse 3a 1.OG
  • Samstag 01.06. 08:30 - 12:00 Seminarraum 4 Sensengasse 3a 1.OG
  • Freitag 28.06. 13:15 - 16:30 Seminarraum 4 Sensengasse 3a 1.OG
  • Samstag 29.06. 08:30 - 12:00 Seminarraum 4 Sensengasse 3a 1.OG

Information

Ziele, Inhalte und Methode der Lehrveranstaltung

Körperliche und geistige Normalität und Anormalität wurden seit der Mitte des 19. Jahrhundert zu wichtigen Bezugsgrößen für Erziehung und Schule. Die Medizin und später auch die neu entstehende
Psychologie begannen sich zunehmend für Kinder, Erziehung und Schule zu interessieren. Vor dem Hintergrund einer hohen Kindersterblichkeit verbreiteten Pädiater und andere Ärzte Ratschläge über Hygienemaßnahmen und die »richtige« Erziehung in Vorträgen und Publikationen. Die Ärzte interessierten sich aber nicht nur für Säuglinge und Kleinkinder. Im Zuge der Hygienebewegung entdeckten sie die Volksschule als wissenschaftliches Experimentierfeld und begannen, in groß angelegten Untersuchungen
langfristige statistische Gesundheitsdaten zu sammeln. Mittels dieser aufwendigen wissenschaftlichen Studien wollten die Mediziner einerseits belegen, dass der jahrelange, obligatorische Schulbesuch zu sogenannten Schulkrankheiten wie Kurzsichtigkeit und Skoliose führe. Andererseits verfolgten sie das Ziel, Normen in Bezug auf die körperliche Gesundheit der Schulkinder zu definieren.
Diese Vorstellungen kindlicher Normalität bildeten dann die Grundlage für ein bereites Spektrum an hygienischen Maßnahmen, welche die Ärzte propagierten und in den Schulalltag einführen wollten. Zu diesen Maßnahmen zählten adäquat konstruiertes Schulmobiliar, gut beleuchtete Klassenzimmer, angemessene Dauer und Reihenfolge der Unterrichtseinheiten sowie regelmäßige ärztliche Untersuchungen der Schülerinnen und Schüler.

Seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert befasste sich die kinderpsychologische Forschung mit der Entwicklung von Individuen. Mittels »moderner« naturwissenschaftlicher Ansätze und Methoden
wollten Psychologen und Psychologinnen die Gesetze einer »normalen« kindlichen Entwicklung entschlüsseln und Wissen generieren, das als Grundlage für die Neugestaltung von Unterricht und Schule dienen sollte. Gleichzeitig mit der Entstehung einer wissenschaftlich fundierten Vorstellung davon, was eine »normale« altersgemäße Entwicklung sei, erfolgte die Einführung von Jahrgangsklassen. Diese neue Unterrichtsorganisation bedeutete, dass jedes Schuljahr seine eigene Stundentafel, den eigenen
Lehrplan und eigene Lehrmittel erhielt. Die Kinder sollten also innerhalb einer bestimmten Zeit eine bestimmte Menge an Unterrichtsstoff bewältigen, d.h. sie sollten mit einem »normalen«, altersgemäßen Lerntempo voranschreiten.

Mit der Entwicklung von Vorstellungen zu kindlicher Normalität entstanden auch Vorstellungen davon, was als »anormal« anzusehen sei. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden, gesondert von der Volksschule, verschiedene Bildungseinrichtungen geschaffen für bestimmte Gruppen von Kindern, die als körperlich oder geistig »anormal« identifiziert worden waren und spezielle Behandlung und vor allem speziellen Unterricht erhalten sollten: »Taubstumme«, »Sehbehinderte«, »Geistesschwache«, »Krüppel«, »Verhaltensgestörte« und »Verwahrloste«. Für diese Kinder wurden je sogenannte Anstalten und später auch besondere Klassen eingerichtet. Obwohl schon früh auch Kritik geäußert wurde, galt dieses separative Modell bis weit ins 20. Jahrhundert als das Mittel der Wahl, um die »anormalen« Schülerinnen und Schüler zu bilden. Parallel zur Institutionalisierung spezieller Bildungsangebote
für »anormale« Kinder entwickelte sich die Heilpädagogik als Profession und wissenschaftliche Disziplin.

Art der Leistungskontrolle und erlaubte Hilfsmittel

Präsenz und aktive Mitarbeit
regelmässige vorbereitende Lektüre
Erarbeitung einer eigenen Fragestellung, mehrere schriftliche Textvorbereitungen, Verfassen einer Proseminararbeit, Präsentation der wichtigsten Ergebnisse

Mindestanforderungen und Beurteilungsmaßstab

Ziele und Methode:
Im Mittelpunkt dieses Proseminars steht der Kenntnis- und Kompetenzerwerb wissenschaftlichen Arbeitens. Einerseits werden grundlegende (handwerkliche) Fertigkeiten des wissenschaftlichen Arbeitens vermittelt und die Studierenden werden in das Verfassen einer schriftlichen Arbeit eingeführt. Andererseits werden auf der Grundlage von Quellentexten aus dem deutschsprachigen Raum und
Fachliteratur verschiedene Konzepte, Theorien und Vorstellungen von kindlicher (A)Normalität, die im 19. und 20. Jahrhundert im Kontext von Medizin, Psychologie und Heilpädagogik entstanden und
Erziehung und Schule bis heute beeinflussen, analysiert und diskutiert. Die Studierenden lernen dabei, sich differenziert und reflektiert mit diesen Konzepten, Theorien und Vorstellungen auseinanderzusetzen.

Alle Studierenden müssen eine Bibliotheksführung absolvieren (Dauer: 45 Minuten) und eine Rechercheschulung (Dauer 90 Minuten).

Link für die Führungen:
https://bibliothek.univie.ac.at/fb-bsvl/fuehrungen-bw-bm4.html

Link für die Schulungen:
https://bibliothek.univie.ac.at/fb-bsvl/schulungen-bw-bm4.html
(Bitte unbedingt Laptops o.ä. zu den Schulungen mitnehmen.)

Prüfungsstoff

Literatur

Bühler, Patrick: »Diagnostik« und »praktische Behandlung«: Die Entstehung der therapeutischen
Funktion der Schule. In: Reichenbach, Roland/Bühler, Patrick (Hrsg.): Fragmente zu einer pädagogischen
Theorie der Schule. Weinheim: Beltz Juventa 2017, 176-195.
Bühler, Patrick/Hofmann, Michèle (Hrsg.): »Erziehung und Psychopathologisierung 1870-1940«
(Themenschwerpunkt). In: IJHE Bildungsgeschichte 2017, Heft 2, 133-215.
Danforth, Scot: The Incomplete Child. An Intellectual History of Learning Disabilities. New York:
Lang 2009.
Drenth, Annemieke van/Myers, Kevin (Hrsg.): Normalising Childhood. Policies and Interventions
Concerning Special Children in the United States and Europe (1900-1960), Paedagogica Historica, 47
(2011), Nr. 6, 719-840.
Götz, Margarete: Das schulreife Kind - historische Rekonstruktionen zur Normierung kindlicher Entwicklung. In: Einsiedler, Wolfgang et. al. (Hrsg.): Grundschule im historischen Prozess. Zur Entwicklung von Bildungsprogramm, Institution und Disziplin in Deutschland. Bad Heilbrunn: Klinkhardt
2012, 97-117.
Gstach, Johannes: Kretinismus und Blödsinn. Zur fachlich-wissenschaftlichen Entdeckung und Konstruktion
von Phänomenen der geistig-mentalen Auffälligkeit zwischen 1780 und 1900 und deren Bedeutung für Fragen der Erziehung und Behandlung. Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2015.
Hofmann, Michèle: Gesundheitliches Wissen in der Schule. Schulhygiene in der deutschsprachigen Schweiz im 19. und 20. Jahrhundert. Bielefeld: transcript 2016.
Kelle, Helga/Tervooren, Anja (Hrsg.): Ganz normale Kinder. Heterogenität und Standardisierung kindlicher Entwicklung. Weinheim: Juventa 2008.
Ralser, Michaela: Psychiatrisierte Kindheit - Expansive Kulturen der Krankheit. Machtvolle Allianzen
zwischen Psychiatrie und Fürsorgeerziehung. In: Sieder, Reinhard/Ralser, Michaela (Hrsg.): Die Kinder des Staates/Children of the State. Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften, 25
(2014), Nr. 1/2, 128-156.
Ralser, Michaela: Die Sorge um das erziehungsschwierige Kind. Zur Rationalität der Arbeitsteilung
zwischen Psychiatrie und Fürsorgeerziehung am Beispiel der Geschichte der Innsbrucker Kinderbeobachtungsstation.
In: Fangerau, Heiner/Topp, Sascha/Schepker Klaus (Hrsg.): Kinder- und Jugendpsychiatrie
im Nationalsozialismus und in der Nachkriegszeit. Zur Geschichte ihrer Konsolidierung. Heidelberg: Springer 2017, 557-578.
Ralser, Michaela et al.: Heimkindheiten. Geschichte der Jugendfürsorge und Heimerziehung in Tirol
und Vorarlberg. Innsbruck: Studienverlag 2017.
Turmel, André: A Historical Sociology of Childhood. Developmental Thinking, Categorization and
Graphic Visualization. New York: Cambridge University Press 2008.

Zuordnung im Vorlesungsverzeichnis

BM 4 PS (AHP+IP) + BM 1 PS (2011)

Letzte Änderung: Mo 07.09.2020 15:36