Universität Wien

190081 SE M1b Bildungswissenschaft als Disziplin (2022S)

Der spürende Körper. (Neo-)phänomenologische und bildungswissenschaftliche Perspektiven.

5.00 ECTS (2.00 SWS), SPL 19 - Bildungswissenschaft
Prüfungsimmanente Lehrveranstaltung

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Hinweis: Ihr Anmeldezeitpunkt innerhalb der Frist hat keine Auswirkungen auf die Platzvergabe (kein "first come, first served").

Details

max. 25 Teilnehmer*innen
Sprache: Deutsch

Lehrende

Termine (iCal) - nächster Termin ist mit N markiert

28.06.2022 wird die Lehrveranstaltung online stattfinden.
Zoom-Link auf Moodle zugänglich

Dienstag 08.03. 16:45 - 20:00 Seminarraum 4 Sensengasse 3a 1.OG
Dienstag 22.03. 16:45 - 20:00 Seminarraum 4 Sensengasse 3a 1.OG
Dienstag 05.04. 16:45 - 20:00 Seminarraum 4 Sensengasse 3a 1.OG
Dienstag 03.05. 16:45 - 20:00 Seminarraum 4 Sensengasse 3a 1.OG
Dienstag 17.05. 16:45 - 20:00 Seminarraum 4 Sensengasse 3a 1.OG
Dienstag 31.05. 16:45 - 20:00 Seminarraum 4 Sensengasse 3a 1.OG
Dienstag 14.06. 16:45 - 20:00 Seminarraum 4 Sensengasse 3a 1.OG
Dienstag 28.06. 16:45 - 20:00 Digital

Information

Ziele, Inhalte und Methode der Lehrveranstaltung

Seit einigen Jahren hat sich eine phänomenologische Erziehungswissenschaft etabliert, in der in unterschiedlicher Weise die pädagogische Erfahrung und das Begriffspaar Leib/Körper eine zentrale Rolle einnehmen (Brinkmann 2019, Meyer-Drawe 1991, Lippitz 2003). Mit dem Leibbezug der Phänomenologie wird eine einseitige Auflösung von Selbst und Fremdem in einer höheren Einheit aufgegeben, wie sie in der cartesianischen Dualität von Körper und Geist oder der Hegelschen Dialektik angelegt ist. Der Leib wird sowohl vom bloßen Ding als auch von der Seele bzw. vom Ich unterschieden und weist nach Husserl zwei Dimensionen auf. Einerseits ist er als physisches Ding im Sinne eines Leibkörpers bzw. Körperdinges Teil der Welt, d.h. mein Leibkörper ist für andere sichtbar. Andererseits steht er nach Husserl für die lebendigen Vollzüge in der Welt, d.h., dass er auf die Welt wirkt und ihr gegenübersteht (vgl. Husserl 1973). Der Leib verdoppelt sich demzufolge in einen fungierenden Leib und in ein Körperding. Er ist zugleich Subjektleib und Objektleib (vgl. Waldenfels 1994). Der leibliche Körper ist somit immer zugleich wahrnehmender und wahrgenommener, berührender und berührter und stets mein eigener Leib, der ich bin (vgl. Merlau-Ponty 2012). Im Anschluss an leibliche Erfahrungen konzipieren VertreterInnen einer phänomenologischen Erziehungswissenschaft Lernen und Bildung als eine Form des Umlernens, worin der Lernende selbst, 'als Wissender und als derjenige, der sich heimisch in seinem Wissen fühlt, [zur Disposition steht]' (Meyer-Drawe 2015, S.124). Lernen als Umlernen ist nicht die schlichte Akkumulation von Wissen und Können, sondern setzt einen leiblichen Erfahrungsprozess voraus, in dem die Lernenden einem Fremdanspruch ausgesetzt sind, durch den das Alte und Selbstverständliche brüchig wird. Das Neue liegt nicht auf der Hand bzw. ist noch nicht greifbar. Unstimmigkeit, Irritation, Ausweglosigkeit, Staunen, Wundern, Stutzen, Ratlosigkeit, Verwirrung, Benommenheit etc. sind Hinweise auf solche Brüche in der vertrauten Ordnung und Anzeichen für Anfänge des Lernens (vgl. Waldenfels 2000). Lernprozesse setzen mit den Versuchen ein, auf das Brüchige zu reagieren bzw. zu antworten, wobei die Antworten zunächst entzogen bleiben.

Im Anschluss an phänomenologische Strömungen gründete Hermann Schmitz die Neue Phänomenologie, in der er zwei grundsätzliche Hauptanliegen verfolgt. Zum einen möchte er die Introjektion der Gefühle überwinden, zum anderen möchte er der unwillkürlichen Lebenserfahrung des Menschen eine Sprache geben (vgl. Schmitz 2014). Die Leiblichkeit stellt das Fundament seiner Phänomenologie dar. Schmitz geht von einer elementaren Unterscheidung von Körper und Leib aus. Der Körper verweist auf einen naturwissenschaftlich objektivierenden Zugriff. Er kann gemessen, gesehen und ertastet werden. Der Leib hingehen stellt einen gefühlten bzw. gespürten Körper dar, der nach Schmitz von 'leibliche[n] Regungen, wie z.B. Angst, Schmerz, Wollust, Hunger, Durst, Ekel, Frische, Müdigkeit' (Schmitz 2014, S.32f.) ergriffen ist. Er vertritt die zentrale These, dass 'Gefühle […] räumlich ergossene Atmosphären und leiblich ergreifende Mächte [sind]' (Schmitz 2016, S.30). Personen werden von Atmosphären in Form von Gefühlen ergriffen, die sie leiblich erfahren. In den letzten Jahren lässt sich ein zunehmendes Interesse an Schmitz‘ Leib- und Atmosphärentheorie in den Sozial-, Kultur-, und Erziehungswissenschaften beobachten. In sozial- und kulturwissenschaftlichen Abhandlungen wird im Anschluss an Schmitz etwa die Frage nach einer Affektivität des Sozialen aufgeworfen (Gugutzer 2012, Wellgraf 2018, Pfaller/Wiesse 2018). In der Erziehungswissenschaft wird hinsichtlich der Leib- und Atmosphärentheorie nach Zugängen zu Gefühlen im Kontext von Lern- und Bildungsprozessen sowie nach deren atmosphärischen Bedingungen gefragt (Huber/Krause 2018).

Art der Leistungskontrolle und erlaubte Hilfsmittel

• durchgängige Anwesenheit (max. 2 Fehleinheit)
• proaktive Teilnahme an der Lehrveranstaltung
• aktive Lektüre bzw. regelmäßige Literaturaufträge
• Gruppenimpulsreferat inkl. Handout (20% der Gesamtbewertung)
• Verfassen eines Exposés zur Seminararbeit (30% der Gesamtbewertung)
• Verfassen einer Seminararbeit oder Ablegung einer mündlichen Prüfung (50% der Gesamtbewertung)

Mindestanforderungen und Beurteilungsmaßstab

Methodik /didaktische Einheiten
Generell: Einzelreferate/Impulsreferate
• Kleingruppenarbeit/ Workshoparbeit mit unterschiedlichen Fragestellungen an die Texte
anschließende Präsentation und Diskussionsrunden im Plenum
• Expertengruppen
• Plenarphasen

Prüfungsstoff

Literatur

Bollnow, Otto Friedrich (1964): Die pädagogische Atmosphäre. Untersuchungen über die gefühlsmäßigen zwischenmenschlichen Voraussetzungen der Erziehung. Heidelberg: Quelle & Meyer.
Böhme, Gernot (2001): Aisthetik. Vorlesungen über Ästhetik als allgemeine Wahrnehmungslehre. München: Wilhelm Fink Verlag.
Böhme, Gernot (2013): Architektur und Atmosphären. München: Wilhelm Fink.
Böhme, Gernot (2017): Atmosphäre. Essay zur neuen Ästhetik. Berlin: Suhrkamp.
Brinkmann, Malte, Türstig, Johannes, Weber-Spanknebel, Martin (2019): Leib Leiblichkeit Embodiment. Pädagogische Perspektiven auf eine Phänomenologie des Leibes. Springer VS.
Demmerling, Christoph (2011): Gefühle, Sprache und Intersubjektivität. In: (Hrsg.) Andermann, Kerstin, Eberlein Undine. In: Gefühle als Atmosphären. Neue Phänomenologie und philosophische Emotionstheorie. Berlin: Akademie Verlag., S. 46.
Gugutzer, Robert (2012): Verkörperungen des Sozialen. Neophänomenologische Grundlagen und soziologische Analysen. Bielefeld. Transcript.
Heller, Ágnes (2020): Theorie der Gefühle. Innsbruck: university press.
Huber, Matthias, Krause, Sabine (2018): Bildung und Emotion. Wiesbaden: Springer VS.
Husserl, Edmund: (1973): Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Texte aus dem Nachlass. Erster Teil: 1905-1920. (Hrsg.): Iso Kern, Den Haag.
Lippitz, Wilfried (2003): Differenz und Fremdheit - phänomenologische Studien in der Erziehungswissenschaft. Frankfurt a. M.: Lang.
Merleau-Ponty, Maurice (1966): Phänomenologie der Wahrnehmung. (Hrsg.): C.F. Graumann und J. Linschoten. Band 7. Walter de Gruyter & Co./Berlin.
-; (1993): 'Die Wahrnehmung des Anderen und der Dialog'. In: Die Prosa der Welt. (Hrsg.): Claude Lefort. Dt. Ausgabe Waldenfels. München: Wilhelm Fink Verlag, S.147-161.
-; (2003): Das Auge und der Geist. Hamburg: Felix Meiner Verlag.
-; (2004): Das Sichtbare und Unsichtbare. (Hrsg.): Eßbach, Wolfgang, Waldenfels, Bernhard. Band 13. München: Wilhelm Fink Verlag.
Meyer-Drawe, Käte (1984): Leiblichkeit und Sozialität. Phänomenologische Beiträge zu einer pädagogischen Theorie der Inter-Subjektivität. München: Fink.

-; (1991): Leibhafte Vernunft Skizze einer Phänomenologie der Wahrnehmung. In: Körperbewusstsein, Hrsg. Josef Fellsches, 80-97. Beiträge zur Theorie und Kultur und der Sinne, Folkwang-Texte 2, Essen: Die Blaue Eule.
-; (2002): 'Die Dichte der Dauer. Phänomenologische Notizen zu den Grenzen des Verstehens bei Merleau-Ponty'. In: Kühne-Bertram, Gudrun/Scholtz, Gunter (Hrsg.): Grenzen des Verstehens. Philosophische und humanwissenschaftliche Perspektiven. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, S. 163-171.
-; (2007): 'Du sollst dir kein Gleichnis machen…? - Bildung und Versagung.' In: Koller, Hans-Christoph/Marotzki, Winfried/Sanders, Olaf (Hrsg.): Bildungsprozesse und Fremdheitserfahrung. Beiträge zu einer Theorie transformatorischer Bildungsprozesse. Bielefeld: transcript, S. 83-95.
-; (2010): 'Leib, Körper'. In: Bermes, Christian/Dierse, Ulrich (Hrsg.): Schlüsselbegriffe der Philosophie des 20. Jahrhunderts. Hamburg: Felix Meiner Verlag, S.207-219.
-; (2012): Diskurse des Lernens. München: Wilhelm Fink.
-; (2015): 'Lernen und Bildung als Erfahrung'. In: Lernen und Bildung als Erfahrung. In: Christof & Ribolits (Hrsg.): Bildung und Macht. Eine kritische Bestandsaufnahme. Wien: Löcker.
-; (2016): 'Wenn Blicke sich kreuzen. Zur Bedeutung der Sichtbarkeit für zwischenmenschliche Begegnungen.' In: Jung, Matthias/Bauks, Michaela/Ackermann, Andreas (Hrsg.). In: Dem Körper ein-geschrieben. Verkörperung zwischen Leiberleben und kulturellem Sinn. Wiesbaden: Springer VS, S.37-54.
Pfaller, Larissa, Basil, Wiesse (2018): Stimmungen und Atmosphären. Zur Affektivität des Sozialen. Wiesbaden: Springer.
Rosa, Hartmut (2016): Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung. Berlin: Suhrkamp.
Schäfer, Alfred, Thompson, Christiane (2009): Scham. Ferdinand Schöningh, Paderborn.

Zuordnung im Vorlesungsverzeichnis

M1b

Letzte Änderung: Do 11.05.2023 11:27