190456 VO Erziehung und praktische Vernunft (2006W)
Erziehung und praktische Vernunft. Die "Lehrbarkeit der Tugend" als pädagogisches Problem
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Sprache: Deutsch
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Information
Ziele, Inhalte und Methode der Lehrveranstaltung
Art der Leistungskontrolle und erlaubte Hilfsmittel
Mindestanforderungen und Beurteilungsmaßstab
Ziel der Lehrveranstaltung ist eine argumentativ verbindliche Horizonteröffnung im Hinblick auf das Problem der Begründung von Normen und Werten als Bedingung der Möglichkeit ihrer pädagogischen Vermittlung. Mit der Einsicht, daß eine pädagogisch qualifizierte Vermittlung von Normen und Werten nur in dialogischer Weise, d.h. auf dem Wege argumentativer Auseinandersetzung möglich ist, erweisen sich Normkritik und Normbegründung als ein der Pädagogik immanentes Problem. Es soll gezeigt werden, daß die Behandlung von Norm- und Wertfragen pädagogischem Denken nur dort möglich ist, wo dieses die (empirische) Erziehungswissenschaft übersteigt und den Boden der Erziehungsphilosophie betritt. Wissenschaftliche Pädagogik, die sich dem Begründungproblem um der Legitimität ihres Vorgehens in Theorie und Praxis willen zu stellen verpflichtet ist, kann sich das mühsame Geschäft der "Anstrengung des Begriffs" nicht von einer ihr als selbständige Disziplin gegenüberstehenden Ethik abnehmen lassen, ohne im Widerruf der sie bestimmenden regulativen Prinzipien zur Hilfswissenschaft ihrer Hilfswissenschaften zu werden.
Prüfungsstoff
Im sprachkritischen Anschluß an die philosophische Tradition soll versucht werden, das Problem der Begründung von Normen und Werten im Spannungsraum antiker und neuzeitlicher Ethik zu entfalten. Erst die problemgeschichtliche Aneignung des ontologisch-naturrechtlichen und transzendentalphilosophischen Ansatzes praktischer Philosophie vermag die argumentativen Voraussetzungen für einen kritische Sichtung der die Gegenwart in der Diskussion um Normen und Werte bestimmenden Prinzipien (Utilitarismus, Naturalismus) zu schaffen.
Literatur
Auf die entsprechende Literatur wird in der Vorlesung jeweils hingewiesen werden.
Zuordnung im Vorlesungsverzeichnis
Letzte Änderung: Mo 07.09.2020 15:37
Die Theorie der Erziehung beginnt historisch gesehen mit der sokratischen Frage nach der Lehrbarkeit der Tugend. Der explizite Anspruch, mit dem die Sophisten als Lehrer der Tugend auftraten, mußte im Gegensatz zu einer vorpädagogischen Erziehung, in der Inhalte und Methoden im Sinne von Herkommen, Überlieferung und Tradition fraglos selbstverständlich schienen, die Frage nach der Möglichkeit der angebotenen Vermittlung provozieren und damit die Norm- und Wertproblematik als das Zentrum der pädagogischen Grundlegungsproblematik ausweisen. "Was ist Tugend?" lautet demnach die Frage, mit der Sokrates, indem er zeigt, daß sie der Frage nach der Lehrbarkeit der Tugend noch vorgeordnet werden muß, die Sophistik konsequent zu Ende denkt und den die Sophistik kennzeichnenden erkenntnistheoretischen Subjektivismus, in dessen praktischer Konsequenz nicht bloß die griechische Adelsethik zerstört, sondern eine positive Lösung des Problems der Sittlichkeit überhaupt obsolet erschien, überwindet.
Es ist die zentrale Leistung Kants, die prinzipielle Grenze aller ontologisch naturrechtlich verstandenen Tugendkonzeptionen in Sicht gebracht zu haben, indem er, im Rahmen der praktischen Philosophie der Neuzeit gezeigt hat, daß das Gute nicht in Analogie zur Repräsentation in der Natur und einer ihr entsprechenden Vollkommenheit gedacht werden kann. Er weist, indem er materiale Wertethik und Erfolgsethik gleichermaßen distanziert, ohne sich den Einwänden, die seit Max Weber gegen eine Gesinnungsethik geltend gemacht werden auszusetzen, nach, daß eine Begründung der Sittlichkeit nur im Rekurs auf Gesinnung und Gewissen zu leisten ist. Kant, der der Erziehung im Hinblick auf die Menschwerdung des Menschen, systematisch gesehen, eine einzigartig zentrale Stellung einräumt, hat die dem pädagogischen Denken seiner Zeit entsprechenden Momente seines Erziehungsbegriffs: Disziplinierung, Kultivierung und Zivilisierung, in einer das pädagogische Denken seiner Zeit weit hinter sich lassenden Weise durch das Moment der Moralisierung überhöht und von ihm her normativ qualifiziert. Moralität wird in diesem Sinn als Autonomie der praktischen Vernunft faßbar und in der Ausrichtung des guten Willens am selbstgegebenen Gesetz beschreibbar. Autonomie begründet als Selbstgesetzgebung praktischer Vernunft die Würde des Menschen im Unterschied zum Preis der als Mittel verfügbaren Sachen und seine Stellung als Selbstzweck. Durch den pädagogisch unverzichtbaren Rückbezug auf Kant kann nicht nur das Normproblem aus jenen Beschränkungen befreit werden, die sich für die gegenwärtige Diskussion aus dem ihr zugrunde liegenden undifferenzierten Normbegriff ergeben, sondern auch den durch inflationären Gebrauch und sonntagsrednerisches Pathos weitgehend zu Leerformeln gewordenen Begriffen "Person" und "Würde" ihre philosophische Tiefe zurückgewonnen werden.
Ein philosophisch gesehen auch nur einigermaßen differenzierter Blick auf den Gesamtraum praktischer Vernunft setzt darüber hinaus die Differenzierung des weiten Raumes wert- und normsetzender sittlicher Äußerungsformen, wie etwa Brauch, Umgangsform, Mode, Gewohnheit, Regel, Norm und Kult voraus, und das Herausarbeiten der Beziehung, die der Sitte zu den Momenten Autonomie und Recht, in dem als Sittlichkeit bestimmten Gesamtraum freiheitlich selbstbestimmter Praxis zukommt.