Universität Wien

230109 SE M3 Lektüreseminar: Pierre Bourdieu - Zwischen Sozial- und Gesellschaftstheorie (2025S)

5.00 ECTS (2.00 SWS), SPL 23 - Soziologie
Prüfungsimmanente Lehrveranstaltung

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Hinweis: Ihr Anmeldezeitpunkt innerhalb der Frist hat keine Auswirkungen auf die Platzvergabe (kein "first come, first served").

Details

max. 26 Teilnehmer*innen
Sprache: Deutsch

Lehrende

Termine (iCal) - nächster Termin ist mit N markiert

  • Freitag 07.03. 13:15 - 14:45 Inst. f. Soziologie, Seminarraum 1, Rooseveltplatz 2, 1.Stock
  • Freitag 14.03. 13:15 - 14:45 Inst. f. Soziologie, Seminarraum 1, Rooseveltplatz 2, 1.Stock
  • Freitag 21.03. 13:15 - 14:45 Inst. f. Soziologie, Seminarraum 1, Rooseveltplatz 2, 1.Stock
  • Freitag 28.03. 13:15 - 14:45 Inst. f. Soziologie, Seminarraum 1, Rooseveltplatz 2, 1.Stock
  • Freitag 04.04. 13:15 - 14:45 Inst. f. Soziologie, Seminarraum 1, Rooseveltplatz 2, 1.Stock
  • Freitag 11.04. 13:15 - 14:45 Inst. f. Soziologie, Seminarraum 1, Rooseveltplatz 2, 1.Stock
  • Freitag 09.05. 13:15 - 14:45 Inst. f. Soziologie, Seminarraum 1, Rooseveltplatz 2, 1.Stock
  • Freitag 16.05. 13:15 - 16:30 Inst. f. Soziologie, Seminarraum 1, Rooseveltplatz 2, 1.Stock
  • Freitag 23.05. 13:15 - 14:45 Inst. f. Soziologie, Seminarraum 1, Rooseveltplatz 2, 1.Stock
  • Freitag 06.06. 13:15 - 14:45 Inst. f. Soziologie, Seminarraum 1, Rooseveltplatz 2, 1.Stock
  • Freitag 13.06. 13:15 - 16:30 Inst. f. Soziologie, Seminarraum 1, Rooseveltplatz 2, 1.Stock
  • Freitag 27.06. 13:15 - 14:45 Inst. f. Soziologie, Seminarraum 1, Rooseveltplatz 2, 1.Stock

Information

Ziele, Inhalte und Methode der Lehrveranstaltung

Der Erkenntnisgegenstand der Soziologie ist die Gesellschaft der Menschen. Was unter einer Gesellschaft zu verstehen ist, ist in der Soziologie umstritten, ebenso wie die Frage, ob man überhaupt eine Gesellschaftstheorie benötigt. Der Streit hat komplexere Ursachen, ist aber besonders epistemologischen Problemen geschuldet. Denn wer eine Theorie der Gesellschaft ausarbeiten will, muss klären, von welcher Perspektive aus dies geleistet werden soll. Eine absolute, außerhalb der Gesellschaft existente Erkenntnisperpsektive, aus der heraus die Gesellschaft in ihrer empirischen Konstruktivität rekonstruiert werden kann, gibt es nicht. Aber muss eine Theorie der Gesellschaft dann nicht - wie alle anderen Theorien auch - in einen epistemologischen Perspektivismus und damit notwendigerweise in einem Relativismus münden? Denn welche der vielen Denkperspektiven soll gelten, zählt die moderne Weltgesellschaft doch mittlerweile mehr als 8 Milliarden Mitglieder?

Einem epistemologischen Perspektivismus wird in der Theorie Pierre Bourdieu eine klare Absage erteilt. Für Bourdieu war klar, dass die soziologische Theorie ein sachhaltiges Wissen über ihren Gegenstand: die von Menschen konstruierte Gesellschaft wie die Menschen selbst, hervorzubringen vermag. Auch wenn Bourdieu nichts dagegen gehabt hätte, als Sozialtheoretiker bezeichnet zu werden, so finden sich in seinen Arbeiten – fast –alle erforderlichen Komponenten einer modernen soziologischen Gesellschaftstheorie. Bedeutsam ist dabei, dass seine Auseinandersetzung mit epistemologischen, anthropologischen, ethnologischen, psychologischen, soziologischen oder politologischen Fragen nie nur punktuell, sondern immer in einen erkenntnissystematischen Zusammenhang eingebunden war. Dies ist auch der Grund, weshalb Bourdieus Theorie sich nicht nur im interdisziplinären, sondern auch im Kontext empirischer Forschung als ungemein anschlussfähig und fruchtbar erwiesen hat. Und anders als in Luhmanns Systemtheorie spielen im Denken Bourdieus die vielgestaltigen Formen von Macht und Herrschaft, denen die Subjekte in der modernen Gesellschaft unterworfen sind und unter denen sie leiden, eine zentrale Rolle. Bourdieus Soziologie ist aus diesem Grund auch als politisch engagierte Soziologie wahrgenommen worden, was durch Bourdieus eigenes Engagement aktiv gefördert wurde.

Ziel dieses Seminares ist ein mehrfaches:
1. Zunächst soll die Theorie Bourdieus in einem erkennnis- und theoriegeschichtlichen Entwicklungszusammenhang verortet werden, wobei auch die Differenz zwischen einem sozialtheoretischen und gesellschaftstheoretischen Denken erläutert werden soll.
2. Zweitens wird die Struktur seiner Theorie anhand zentraler Begriffe und Positionen: Erkenntnis (Kritik an substanzialistischen und absolutistischen Denkformen und Übergang in ein prozesslogisches Denken), Gesellschaft (Felder, Schichten, Kapitalsorten, Milieus), Individuen (Sozialisation, Habitus, Lebensstil) - erörtert und nach ihren Schwachstellen gefragt.
3. Im Hauptteil des Seminares werden zwei bis drei Texte Bourdieus – zum pädagogischen, wissenschaftlichen oder politischen Feld - behandelt und mit aktuellen gesellschaftlichen Problemlagen (Migration, digitale Bildschirmmedien, Neue Rechte, Umwelt-/Klimaproblematik, Bildung) in Beziehung gesetzt. Inhaltliche Eigeninitiativen seitens der Seminarteilnehmer:innen sind ausdrücklich erwünscht.
4. Inwiefern sich Bourdieus Theorie der modernen, in Felder differenzierten Gesellschaft mit Luhmanns Konzeption der funktional differenzierten Gesellschaft vergleichen lässt und worin sie sich unterscheiden, soll im Schlussteil ebenso erörtert werden wie die Frage, inwiefern die subjektsoziologisch unterkomplexe Habituskonzeption durch eine historisch-genetische Theorieperspektive fortentwickelt werden kann.

Methoden: Vortrag, Referat, Diskussion (Plenum, Kleingruppen), schriftliche Arbeiten, intensive und kontinuierliche Textlektüre

Art der Leistungskontrolle und erlaubte Hilfsmittel

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Hinweis der SPL Soziologie:
Alle Studierenden, die einen Lehrveranstaltungsplatz erhalten haben, sind zu beurteilen, sofern sie sich nicht zeitgerecht abgemeldet haben oder unverzüglich nach Wegfall des Hindernisses einen wichtigen Grund für die Nichtdurchführung der Abmeldung glaubhaft machen.
Bei Vorliegen eines solchen Grundes (zB eine längere Erkrankung) kann d* Studierende auch nach Ablauf der Frist von der LV abgemeldet werden.
Über das Vorliegen eines wichtigen Grundes entscheidet die Lehrveranstaltungsleitung. Der Antrag auf Abmeldung ist unverzüglich zu stellen.
Für eine positive Beurteilung der Lehrveranstaltung ist die positive Absolvierung aller Teilleistungen erforderlich.
Im Zuge der Beurteilung kann eine Plagiatssoftware (Turnitin in Moodle) zur Anwendung kommen.
Die Verwendung von KI-Tools (z. B. ChatGPT) für die Produktion von Texten ist nur dann erlaubt, wenn dies von der Lehrveranstaltungsleitung ausdrücklich gefordert wird (z. B. für einzelne Arbeitsaufgaben).
Zur Sicherung der guten wissenschaftlichen Praxis kann die Lehrveranstaltungsleitung eine mündliche Reflexion ("Notenrelevantes Gespräch") der abgegebenen Seminararbeit vorsehen, die erfolgreich zu absolvieren ist.
Wurde eine Teilleistung erschlichen, d.h. etwa bei einer Prüfung oder einem Test geschummelt, bei einer schriftlichen Arbeit plagiiert oder auch Unterschriften auf Anwesenheitslisten gefälscht, wird die gesamte Lehrveranstaltung als "nicht beurteilt" gewertet und entsprechend erfasst.
Dies uns weitere Bestimmungen finden sie im studienrechtlichen Satzungsteil: https://satzung.univie.ac.at/studienrecht/.
Wenn Sie eine prüfungsimmanente Lehrveranstaltung bereits dreimal negativ absolviert haben und sich für einen vierten Antritt anmelden wollen, kontaktieren Sie bitte die StudienServiceStelle Soziologie während der Anmeldephase (vgl: Zusatzinformation "Dritte Wiederholung bei prüfungsimmanenten Lehrveranstaltungen" https://soziologie.univie.ac.at/info/pruefungen/#c56313)

Mindestanforderungen und Beurteilungsmaßstab

AaG= Anteil an Gesamtnote
1. Gruppenreferate (max. 30 Min.) inklusive Handout: 20 %
2. Gruppenprotokoll/kleine schriftliche Arbeiten: 30 %
3 Seminararbeit: 50% (ca. 10 bis max. 14 Seiten)
4. Regelmäßige Anwesenheit und aktives Mitdenken/Mitarbeiten

Für einen positiven Abschluss der Lehrveranstaltung müssen sämtliche Teilleistungen positiv absolviert werden.

Konzeptionell-didaktische Info: Von den Mitgliedern des Seminares wird die Bereitschaft erwartet, sich die zentralen Texte des Seminares in analoger Form verfügbar zu machen und sich mit Hilfe von Exzerpten aktiv mit ihnen auseinanderzusetzen. Die bisherigen Seminarerfahrungen haben gezeigt, dass das Niveau der Rezeptionsintensität von Seminartexten als auch das Niveau der kognitiven Akkomodation an argumentativ elaborierte Semantiken auf der Basis digitaler Bildschirmmedien häufig zu "oberflächlich" bleibt.
In diesem Zusammenhang gilt es im Blick zu behalten, dass die Dynamik als auch die Funktionalität der digitaltechnologischen Entwicklungen in den gegenwärtigen Gesellschaften in erster Linie von Kapitalinteressen bestimmt werden. Dies erklärt auch, weshalb die staatliche Digitalisierungspolitik selbst in demokratisch regierten Gesellschaften gegenwärtig ohne hinreichende Risikoanalyse betrieben wird und die wissenschaftlich vorliegenden Erkenntnisse hierzu weitgehend ignoriert werden. Eines ist aber schon jetzt überdeutlich erkennbar: Allein die Tatsache, dass in den USA, Österreich oder anderen Ländern des Globalen Nordens der Verbreitungsgrad von Smartphone und Co. unter den Erwachsenen bei 90% und mehr liegen dürfte und immer mehr und auch immer früher Kinder und Jugendliche an die digitalen Bildschirmtechnologien und ihre Applikationen angeschlossen werden, kann keineswegs schon gewährleisten, dass ihre Nutzer:innen die Kompetenz ausbilden werden, den Geltungsanspruch ethnonationalistischer Identitätsideologien und kruder Verschwörungstheorien erkenntniskritisch zu dekonstruieren. Im Gegenteil ist zu beobachten, dass kognitiv komplexere und globalpolitisch höchst bedeutsame Informationen über das ökologisch und gesellschaftlich (z.B. durch den Machtzuwachs der Vermögenseliten) riskante Katastrophenpotential eines globalisierten Kapitalismus aus dem Fokus der Wahrnehmung geraten und zu kontingenten Ereignissen im endlosen Strom von irgendwelchen Tiktok-Videos und Social-Media-News zu werden drohen oder schon geworden sind. Inzwischen ist sogar die Frage zu stellen, ob es eine zumindest implizite Strategie der politisch einflussreichen Eliten des fossil-industriellen und "digitalen Kapitalismus" sein könnte, durch die Audiovisualisierung von algorithmisch selegierten Weltereignissen im "kommerziallen Internet" (Staab) die intellektuellen Grundlagen einer Politik der demokratischen Gesellschaftsgestaltung zu unterminieren und durch die Förderung von Prozessen der Entintellektualisierung, Isolierung und Infantilisierung einem autokratisch regierten Oligarchen-Kapitalismus politisch zum Durchbruch zu verhelfen. Wie soziologische Aufklärung als Generierung einer spezifischen kognitiven und demokratiepolitisch fundamental bedeutsamen Reflexionskompetenz unter den aktuellen gesellschaftlichen und medientechnologischen Bedingungen gelingen kann, wird im Rahmen dieses Seminares ergebnisoffen zu erörtern sein.

Prüfungsstoff

Seminartexte, Seminarvorträge, im Seminar analysierte theoretische und empirische Materialien.

Literatur

1. Bourdieu, Pierre (1984), Das objektivierende Subjekt objektivieren, in: ders., Rede und Antwort, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1992, S. 219 – 223.
2. Bourdieu, Pierre (1989), Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt/M.
3. Bourdieu, Pierre (1993), Narzisstische Reflexivität und wissenschaftliche Reflexivität, in: Berg, E./Fuchs, M. (Hg.), Kultur, soziale Praxis, Text. Die Krise der ethnographischen Repräsentation, Frankfurt/M. 1993.
4. Bourdieu, Pierre (1996), „Was bin ich?“ Ein Interview mit P. Bourdieu von Isabella Graw. URL: http://www.homme-moderne.org/societe/socio/bourdieu/entrevue/was.html
5. Bourdieu, Pierre (1997), Der Tote packt den Lebenden. Schriften zu Politik & Kultur 2, Hamburg: VSA.
6. Bourdieu, Pierre (1998), Für eine engagierte Wissenschaft, in: ders., Gegenfeuer, Konstanz: UVK 2001, S. 34-42.
7. Bourdieu, Pierre (2001), „Körperliche Erkenntnis“ (Kap. 4), in: ders., Meditationen. Zur Kritik der scholastischen Vernunft, Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 165 – 209.
8. Bourdieu, Pierre (2002), Ein soziologischer Selbstversuch, Frankfurt/M.: Suhrkamp.
9. Bourdieu, Pierre et al. (2002), Der Einzige und sein Eigenheim, Hamburg: VSA.
10. Bourdieu, Pierre, Das politische Feld. Zur Kritik der politischen Vernunft, Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft 2001.
11. Bourdieu, Pierre, Das politische Feld, in: ders., Das politische Feld. Zur Kritik der politischen Vernunft, Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft 2001, S. 41 – 66.
12. Bourdieu, Pierre, Gegenfeuer, Konstanz: UV K Verlagsgesellschaft 2004.
13. Bourdieu, Pierre, Vom Gebrauch der Wissenschaft. Für eine klinische Soziologie des wissenschaftlichen Feldes, Konstanz: UV K Verlagsgesellschaft 1998.
14. Fröhlich, Gerhard/ Rehbein, Boike (2014) (Hg.), Bourdieu-Handbuch : Leben - Werk – Wirkung. Sonderausgabe, Stuttgart/Weimar: Verlag J.B. Metzler
15. Koch, Thomas (2010), Macht der Gewohnheit? Der Einfluss der Habitualisierung auf die Fernsehnutzung, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
16. Schwerma, Klaus (2000), Stehpinkeln - die letzte Bastion der Männlichkeit? : Identität und Macht in einer männlichen Alltagshandlung, Bielefeld: Kleine.
17. Schwingel, Markus (1995), Bourdieu zur Einführung, Hamburg: Junius.
18. Sold, Karin (2013), Ein unvollendeter Aufarbeitungsprozess: Der Algerienkrieg im kollektiven Gedächtnis Frankreichs. URL: https://www.bpb.de/themen/europa/frankreich/505860/der-algerienkrieg/
19. Nassehi, Armin/Gerd Nollmann (Hg.) 2004: Bourdieu und Luhmann. Ein Theorienvergleich. Frankfurt/Main
20. Pressburger, Gertrude (2019), Gelebt, Erlebt, Überlebt. Aufgezeichnet von M. Groihofer. Mit einem Nachwort von O. Rathkolb, München: btb.

Zuordnung im Vorlesungsverzeichnis

Letzte Änderung: Di 25.02.2025 14:26